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Autorenbildsarahwalther

Retreats – zwischen Selbstfürsorge und therapeutischem Risiko


 

Retreats – zwischen Selbstfürsorge und therapeutischem Risiko

 

In einer Welt, die zunehmend von Stress und Schnelllebigkeit geprägt ist, suchen viele Menschen nach Möglichkeiten, innezuhalten und sich auf das Wesentliche zu besinnen. Retreats versprechen genau das: eine Auszeit, die Erholung und inneres Wachstum ermöglichen soll. Doch was passiert, wenn diese Auszeit anders verläuft als erwartet?

 

Vor einigen Wochen habe ich an einem Meditationsretreat teilgenommen, das mich nachhaltig beschäftigt hat – sowohl auf persönlicher als auch auf beruflicher Ebene.

 

Das Programm bestand überwiegend aus stillen Sitzmeditationen in Einheiten von 15 bis 25 Minuten. Austausch oder gemeinsames Reflektieren waren nicht vorgesehen und Einzelgespräche wurden zwar angeboten, doch die Anzahl war begrenzt, sodass viele Interessierte keinen Zugang dazu bekamen.

 

Besonders in der Abschlussrunde, in der sich die Teilnehmenden zu Wort meldeten, wurde mir klar, dass bei vielen durch die Meditation tieferliegende emotionale Themen aufgeworfen wurden. Als Therapeutin nahm ich dies mit wachsendem Unbehagen wahr. Es zeigte sich, dass einige Teilnehmende in einen Zustand geraten waren, der aus meiner Sicht eine therapeutische Begleitung benötigt hätte – eine Begleitung, die in diesem Setting nicht gegeben war.

 

Für mich stand das Wochenende vor allem unter dem Gesichtspunkt von Disziplin, Konzentration und Fokussierung. Durch meine Erfahrung als Therapeutin und die persönliche Arbeit, die ich in den vergangenen Jahren geleistet habe, konnte ich die stillen Meditationen eher als Übung wahrnehmen, ohne dass bei mir selbst tiefere, unbearbeitete Themen aufbrachen. Dennoch hatte ich den Eindruck, dass viele Teilnehmende das Retreat mit der Vorstellung besuchten, sich etwas Gutes zu tun – vielleicht in Form von Entspannung oder innerer Ruhe.

 

Es zeigte sich jedoch, dass das Retreat auf einer sehr intensiven, tiefgreifenden Ebene stattfand, mit der nicht alle gerechnet hatten. Dieser Eindruck wurde auch durch die Worte der Meditationsleiterin gestützt, die betonte, dass ein solches Wochenende kein Spaziergang sei. Für einige war es offensichtlich eine Herausforderung, die möglicherweise mehr Arbeit an inneren Prozessen erforderte, als sie ursprünglich erwartet hatten.

 

Während des Wochenendes fand ich zudem einen Flyer, der ein weiteres Angebot bewarb: Ein mehrtägiger Aufenthalt in einer Dunkelkammer. Vier bis zehn Tage völlige Dunkelheit, kein Kontakt zur Außenwelt, keine Lichtquellen, die Essensversorgung erfolgt kontaktlos. Eine Stunde Gespräch wurde als Bestandteil dieses Programms erwähnt, ohne dass klar wurde, ob dies von geschultem Fachpersonal durchgeführt wird. Dieses Konzept ließ mich nachdenklich zurück – über die potenziellen psychischen Risiken und die Verantwortung, die Anbieter solcher Angebote tragen.

 

In diesem Beitrag möchte ich nun einen fachlichen und auch kritischen Blick werfen.

 

Warum Retreats zum Trend wurden

 

Der Erfolg von Retreats lässt sich auf mehrere gesellschaftliche und psychologische Faktoren zurückführen. In einer immer hektischeren Welt, geprägt von ständiger Erreichbarkeit und Leistungsdruck, wächst das Bedürfnis nach Rückzug und innerer Ruhe. Retreats bieten eine scheinbare Flucht aus dem Alltag und die Möglichkeit, sich intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen – fernab von äußeren Ablenkungen.

 

Zusätzlich hat die zunehmende Popularität von Achtsamkeit und Meditation, verstärkt durch wissenschaftliche Studien zu deren positiven Effekten, das Interesse an solchen Formaten gesteigert. Gleichzeitig hat sich der Wellness-Tourismus zu einem milliardenschweren Industriezweig entwickelt, der diese Sehnsucht kommerziell nutzt und immer neue, teils extremere Angebote schafft, um eine möglichst transformative Erfahrung zu versprechen.

 

Auch die kulturelle Faszination für östliche Spiritualität und Praktiken hat im Westen dazu beigetragen, dass Formate wie Schweige-Retreats oder Dunkelretreats an Attraktivität gewonnen haben. Sie stehen symbolisch für Tiefe, Selbsterkenntnis und das Streben nach einem “authentischen” Leben – Werte, die vielen in der heutigen Zeit verloren gegangen scheinen. Doch dieser Trend birgt auch Risiken, wenn die intensiven Prozesse nicht verantwortungsvoll begleitet werden.

 

Schweige-Retreats zielen darauf ab, durch den Verzicht auf verbale Kommunikation eine tiefere Achtsamkeit und Selbstreflexion zu ermöglichen. Während viele Teilnehmende positive Effekte wie ein verstärktes Erleben des Hier und Jetzt berichten, können bei anderen unbewältigte emotionale Themen aufsteigen, die ohne angemessene Unterstützung schwer zu verarbeiten sind.

 

Dunkelretreats, bei denen Personen mehrere Tage in völliger Dunkelheit verbringen, sollen einen Rückzug von äußeren Reizen ermöglichen und tiefere Bewusstseinsschichten zugänglich machen. Allerdings können solche Erfahrungen Ängste, Traurigkeit und sogar Halluzinationen auslösen. Ohne professionelle Begleitung besteht das Risiko, dass aufsteigende, lange verdrängte und emotional aufgeladene Erinnerungen (Traumata) nicht adäquat verarbeitet werden können.

 

Psychische Risiken intensiver Retreats

 

Während viele Menschen von den positiven Effekten solcher Retreats berichten, gibt es auch Hinweise auf potenzielle negative Auswirkungen. Einige Teilnehmende erleben während oder nach intensiven Meditationspraktiken verstärkte Angstzustände, depressive Symptome oder sogar suizidale Gedanken. Obwohl konkrete Zahlen zu Suiziden im direkten Zusammenhang mit Meditationsretreats schwer zu ermitteln sind, existieren Berichte über Todesfälle im Kontext von Retreats.

 

Mögliche Ursachen für negative Erfahrungen

 

Die Teilnahme an intensiven Retreats kann unbewusste psychische Prozesse aktivieren, die ohne angemessene therapeutische Begleitung schwer zu bewältigen sind. Studien haben gezeigt, dass sensorische Deprivation, wie sie in Dunkelretreats praktiziert wird, das Zeitgefühl und den Schlaf-Wach-Rhythmus erheblich beeinflussen kann. Ein Artikel in "Spektrum der Wissenschaft" beschreibt, dass Menschen, die vorübergehend aller äußeren Sinneseindrücke beraubt wurden, nach kurzer Zeit beginnen, Bilder und Geräusche zu halluzinieren. 

 

Auch bei Schweige-Retreats gibt es Berichte, dass unbewältigte Traumata durch den Mangel an Ablenkung plötzlich ins Bewusstsein treten – eine Erfahrung, die ohne therapeutische Begleitung belastend oder retraumatisierend wirken kann.

 

Das Fragliche aus therapeutischer Sicht

 

Aus meiner Sicht als Therapeutin wird hier eine wichtige Frage aufgeworfen: Welche Verantwortung tragen Anbieter solcher Retreats, wenn sie Formate anbieten, die tiefgreifende emotionale Prozesse auslösen können? Es sollte sichergestellt sein, dass Teilnehmende ausreichend unterstützt werden – sei es durch Vorgespräche, klar kommunizierte Risiken oder professionelle Begleitung vor Ort.

 

 

Worauf du achten solltest, bevor du ein Retreat besuchst

 

Gerade jetzt, wo Weihnachten vor der Tür steht, sind Meditationsretreats ein beliebtes Geschenk – sei es für dich selbst oder für deine Liebsten. Doch nicht jedes Retreat passt zu jedem Menschen, und es ist wichtig, sich im Vorfeld einige Fragen zu stellen. Mit der richtigen Vorbereitung kannst du sicherstellen, dass das Retreat wirklich zu dir und deinen Bedürfnissen passt.

 

1. Kläre deine Ziele und Erwartungen

Überlege dir: Möchtest du vor allem Entspannung und Ruhe finden, oder bist du bereit, dich intensiver mit dir selbst auseinanderzusetzen?

 

Informiere dich über die Ausrichtung des Retreats: Ein Schweige-Retreat, ein Achtsamkeitswochenende oder ein körperlich orientiertes Yoga-Retreat können ganz unterschiedliche Erfahrungen bieten.

 

2. Prüfe die Qualifikationen der Leitung

Informiere dich über die Erfahrung und Qualifikation der Leitung. Gibt es Nachweise für ihre Expertise in Meditation, Psychologie oder therapeutischer Begleitung?

 

Finde heraus, ob es vor Ort Ansprechpartner*innen gibt, falls belastende Themen aufkommen.

 

3. Achte auf den Rahmen des Retreats

Wie ist das Retreat gestaltet? Gibt es Möglichkeiten für Reflexion und Austausch, oder liegt der Fokus auf Stille und Isolation?

 

Intensive Formate wie Dunkelkammer-Retreats oder Schweige-Retreats sind nicht für jede*n geeignet. Besonders, wenn du gerade viel Stress hast oder dich emotional belastet fühlst, solltest du solche Angebote genau prüfen.

 

4. Vertraue auf dein Bauchgefühl

Dein Bauchgefühl kann ein wertvoller Kompass sein. Wenn dir das Programm, die Atmosphäre oder die Kommunikation der Anbieter nicht stimmig erscheinen, zögere nicht, dich für ein anderes Angebot zu entscheiden.

 

5. Verfügbarkeit von Nachsorge und Unterstützung

Kläre, ob das Retreat Nachsorge-Optionen bietet, falls du nach dem Aufenthalt zusätzliche Unterstützung brauchst.

 

Gibt es vor Ort feste Ansprechpartner*innen, an die du dich wenden kannst, wenn dir die Erfahrungen zu intensiv werden?

 

6. Transparenz der Anbieter

Achte darauf, ob die Methoden, Ziele und möglichen Herausforderungen des Retreats klar kommuniziert werden. Anbieter, die zu wenig Informationen geben, solltest du kritisch hinterfragen.

 

Wann Retreats nicht zu empfehlen sind

 

Manchmal ist es besser, auf ein Retreat zu verzichten oder es abzubrechen, wenn es nicht das Richtige für dich ist.

 

Vertraue auf dein Bauchgefühl

Psychologisch gesehen basiert unser Bauchgefühl oft auf subtilen Wahrnehmungen von Sicherheit oder Unbehagen, die uns unbewusst beeinflussen. Wenn du also spürst, dass etwas nicht stimmig ist, nimm dieses Gefühl ernst.

 

Abbruch ist eine Option

Du kannst jederzeit abbrechen, wenn du merkst, dass das Retreat für dich nicht das Richtige ist. Das ist kein Scheitern, sondern eine bewusste Entscheidung für deine Gesundheit.

 

Nutze die Zeit anders

Falls du dich entscheidest zu bleiben, kannst du das Programm auch an deine Bedürfnisse anpassen. Finde Wege, die Zeit für dich zu nutzen, ohne dich zu überfordern – sei es durch Spaziergänge, Journaling oder leichtere Achtsamkeitsübungen.

 

Du bist niemandem etwas schuldig

Denke daran: Du musst niemandem gerecht werden außer dir selbst. Deine Gesundheit und dein Wohlbefinden stehen an erster Stelle. Du bist niemandem Rechenschaft schuldig, wenn du dich entscheidest, das Retreat anders zu nutzen oder zu verlassen.

 

Achte auf die Gruppe und die Dynamik

Gruppenprozesse können stark auf die eigene Wahrnehmung wirken. Wenn du dich in der Gruppe unwohl fühlst, könnte dies auf unbewusste Erwartungen oder Unsicherheiten in der Dynamik hinweisen. Wenn du dich in der Gruppe nicht wohlfühlst, bedeutet das nicht, dass mit dir etwas falsch ist.

Wichtig ist, dass du dich nicht unter Druck setzt, dazuzugehören, sondern dir erlaubst, Abstand zu nehmen.

 

Fazit

 

Ein Retreat kann eine wertvolle Erfahrung sein, aber es ist wichtig, dass du dich in jeder Phase sicher und wohl fühlst. Gib dir die Erlaubnis, auf dich selbst zu achten und Entscheidungen zu treffen, die ausschließlich (!) deinem Wohlbefinden beitragen.

 

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