In meiner täglichen Praxis als systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin begegne ich zunehmend dem Begriff der „Heilung“ im Kontext psychischer Gesundheit, Traumata und psychischer Erkrankungen. Dieser Terminus, so verbreitet und verlockend er auch erscheinen mag, weckt in mir tiefe Bedenken. Die Zusage von „Heilung“ als ein Versprechen, das anderen Menschen in Aussicht gestellt wird, halte ich nicht nur für kritisch, sondern in einigen Fällen sogar für gefährlich.
Das Konzept des Heilens nimmt zwar in der medizinischen und therapeutischen Welt eine zentrale Rolle ein, doch seine Übertragung auf die Psychotherapie ist alles andere als geradlinig. Es erfordert eine differenzierte und kritische Auseinandersetzung, die über einfache Definitionen und Versprechen hinausgeht. Aus meiner Sicht als Fachkraft in der systemischen Therapie ist es essenziell, diesen Begriff sorgfältig zu reflektieren und zu hinterfragen.
Erstens, der Begriff "heilen" impliziert oft eine Rückkehr zu einem vorherigen Zustand der Gesundheit, was in der psychischen Gesundheit nicht immer möglich oder sogar wünschenswert ist. Psychische Leiden und Herausforderungen sind häufig tief verwurzelt in den Erfahrungen, Beziehungen und der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen. Daher zielt die therapeutische Arbeit eher darauf ab, neue Wege des Umgangs mit diesen Herausforderungen zu entwickeln, Resilienz zu stärken und das Wohlbefinden zu fördern, als eine vollständige "Heilung" im herkömmlichen Sinne zu erreichen.
Zweitens betont der Heilungsbegriff eine passive Rolle der Klient*innen, als ob sie Objekte einer Behandlung wären, die von Expert*innen "repariert" werden müssten. Im Gegensatz dazu basiert die systemische Therapie auf der Idee der Zusammenarbeit, bei der Klient*innen als Expert*innen für ihre eigenen Erfahrungen und Lebensgeschichten angesehen werden. Der therapeutische Prozess ist daher ein aktiver und dynamischer Austausch, in dem Klient*innen und Therapeut*innen gemeinsam an Lösungen arbeiten.
Drittens kann die Vorstellung von Heilung unrealistische Erwartungen wecken, dass psychische Probleme vollständig und dauerhaft eliminiert werden können. Dies kann zu Frustration und Enttäuschung führen, wenn Herausforderungen wieder auftreten oder sich als hartnäckiger erweisen als erwartet. Stattdessen fördere ich als Therapeutin ein Verständnis für kontinuierliches persönliches Wachstum und die Entwicklung von Bewältigungsstrategien, die es den Klient*innen ermöglichen, mit zukünftigen Herausforderungen umzugehen.
Viertens, in der systemischen Therapie wird das Individuum immer im Kontext seiner Beziehungen und seines sozialen Umfelds betrachtet. Psychische Probleme werden nicht nur als individuelle Pathologien gesehen, sondern als Ausdruck und Folge von Beziehungsdynamiken und sozialen Kontexten. Die Arbeit zielt daher nicht allein auf das Individuum ab, sondern bezieht das größere System mit ein, was den Begriff der Heilung im individuellen Sinne weiter relativiert.
In meiner Praxis bevorzuge ich daher Begriffe wie "Wachstum", "Veränderung", "Entwicklung" oder "Anpassung", die eine aktivere und hoffnungsvollere Perspektive auf die therapeutische Reise und die Rolle der Klient*innen darin bieten. Diese Begriffe erkennen die Komplexität und Einzigartigkeit jedes Menschen an und betonen die Möglichkeit positiver Veränderung durch Selbstreflexion, Lernen und Beziehungsaufbau.
Ich rate zur Vorsicht bei Angeboten, die eine pauschale „Heilung“ psychischer Herausforderungen versprechen. Jeder Mensch ist einzigartig, und dementsprechend individuell sollten die Ansätze zur Bewältigung psychischer Schwierigkeiten sein. Es gibt keine Einheitslösung. Eine qualifizierte therapeutische Unterstützung sollte die Entwicklung maßgeschneiderter Handlungsstrategien fördern, die genau auf die Bedürfnisse und Lebensumstände der betreffenden Person abgestimmt sind. Der Schlüssel liegt in der Erarbeitung personalisierter Wege, die es ermöglichen, mit Herausforderungen flexibel umzugehen und das eigene Wohlbefinden zu stärken.
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